Nationalökonom - Eisenbahnpionier - Politiker - Publizist
30. November 1846, Kufstein (Österreich): Der etwas abgerissen wirkende Inhaber des Reisepasses Nr. 59 verlässt den Gasthof Zum Goldenen Löwen mit schwachen Schritten. Er ist krank und verzweifelt, doch diese Reise in den Süden könnte ihn heilen. Einen Tag später hält das zuständige Landgericht fest: Der Privatier aus Augsburg blieb nach seiner Ankunft zwei Tage im Bett, klagte über Kopfschmerzen und Fieber, "entfernte sich aber gestern um 6 1/4 Uhr morgens und ist nicht wieder rückgekehrt."
Die Rede ist von Friedrich List - geboren 1789 in der Reichsstadt Reutlingen - dem Gerberssohn, der nach einem Schulbesuch (ohne "sonderliche Progresse") eine Lehre durchläuft, Schreiber wird, als Gasthörer juristische Vorlesungen besucht und schließlich ohne geregelte wissenschaftliche Vorbildung eine Professur für Staatswirtschaft erhält. Es bleibt beim akademischen Intermezzo, denn die Rolle des stillen Gelehrten wird dem begeisterten Mann der Praxis nach 80 Tagen gestrichen. Und so ist die Rede auch von einem Inspirator, Initiator und Feuergeist. "Wer ihn gesehen hatte, vergaß ihn gewiß nie wieder, denn auf seiner kurzen und bequemen Figur erhob sich ein unverhältnismäßig großer löwenartiger Kopf. Seine Augen funkelten umher. Immer spielten Gewitter um seine breite Stirne, und sein Mund flammte beständig wie der Krater des Vesuvs." (Menzel)
List setzt sich im Auf und Ab seines Lebens leidenschaftlich, fast selbstzerstörerisch ein für die wirtschaftliche und politische Einigung Deutschlands: unermüdlich propagiert er den Wegfall der Binnenzölle, gründet den Deutschen Zollverein, legt als Haupt und Sprecher der liberal-demokratischen "Volksfreunde" den Grundstein zur Geschichte der politischen Parteien in Württemberg. Sein anfangs belachtes Konzept zu einem ganz Deutschland umfassenden Eisenbahnnetz macht ihn zur zentralen Figur in der Vorgeschichte des Eisenbahnwesens, und im Kampf gegen die alte, feudalistisch gestanzte Gesellschaft erweist er sich als patriotischer, temperamentvoller Demokrat. Das aufbrausende Wesen des "Urgrobians" erschwert es zwar seinen Freunden, sich stets als solche zu erweisen, doch "wer ihn kannte, verzieh ihm gern alles."
Nicht so seine Gegner: den Metternichs ist der Deputirte List ein Unruhestifter.
Geprägt von der aufklärerischen Tradition seiner Heimatstadt, deren Bürger mitbestimmen können, fordert der Volksvertreter List demokratische Reformen und eine moderne Verfassung anstelle des "alten Quarks". Doch damit ist er seiner Zeit voraus: Als Abgeordneter verkündet er einem im Untertanengeist trainierten Volk Souveränität in einem konstitutionellen Staat - und dieser erklärt ihn zum Kriminellen. Grund: Lists scharfe Kritik an der Obrigkeit und deren "vom Volk ausgeschiedener Beamtenwelt" - vorgetragen 1820 in der Reutlinger Petition, deren Hammerschläge die "Herrenkaste" zertrümmern sollen, jene altwürttembergische bürgerliche Oberschicht in ihren Schlüsselstellungen.
Die Quittung für dieses Paradestück polemisch-pamphletischer Kraft: Verurteilung, Haft, Emigration. Nun erfährt der Begründer der deutschen Volkswirtschaftslehre das Schicksal eines von Enttäuschung zu Enttäuschung rastlos Dahinstürzenden - als ein Sendungsbewusster, befeuert vom Scheitern.
Der 10monatigen Festungshaft entzieht sich der "Majestätsverbrecher" zunächst durch Flucht. 1824 kehrt er aus Frankreich und der Schweiz zurück, doch hofft er auf Milde vergeblich. Unverzüglich steckt man ihn ins Staatsgefängnis Hohenasperg, um ihn bei Einzelhaft und niedrigster Arbeit bewusst zu entehren. (Borst)
Der Verleger Cotta erwirkt für den Häftling schließlich eine "Strafverwandlung in ewige Verbannung", anders gesagt: "eine Begnadigung unter der Bedingung der Auswanderung." So muss der gezwungene Emigrant erst noch schriftlich auf sein württembergisches Staatsbürgerrecht verzichten, bevor er 1825 an Bord des Postbootes Henry mit Kurs Neu-York die Heimat verlässt.In den Vereinigten Staaten findet er sich schnell zurecht; er sammelt wertvolle Erfahrungen als Farmer, Redakteur, Bergbauunternehmer und Publizist. Die Nachwelt zählt ihn - neben Carl Schurz - zu den größten deutschen Erscheinungen in Amerika. Glücklich werden kann Frederick List dort aber nicht: zum einen haben Fehlspekulationen sein ganzes Vermögen aufgefressen, zum andern quält ihn das Heimweh und treibt ihn schließlich zurück: nach 8 Jahren sieht er Deutschland wieder - als amerikanischer Konsul.
In Hamburg, Leipzig und Augsburg verfasst er "Das Nationale System der Politischen Ökonomie", sein Hauptwerk. Es erscheint 1841 - im selben Jahr wird er rehabilitiert, zwei Jahre später lässt man den Unermüdlichen auch für die Handelseinigung Deutschlands arbeiten, man lässt ihn aber auch büßen, denn ein Amt, eine feste Anstellung, eine wirkliche Heimat bleiben dem genialen Volksökonomen aus Reutlingen verwehrt.
Als der vormalige Feuergeist 1846 im Goldenen Löwen absteigt, ist alle Glut verglommen. Zudem hat der von den Mächtigen seiner Zeit Geächtete die Vorboten eines geistigen Zusammenbruchs an sich erkannt. So beendet der Inhaber des bayerischen Passes Nr. 59, amerikanischer Staatsbürger württembergischer Herkunft, seine Genesungsreise in Österreich. Den Schlusspunkt unter seine Biographie setzt der Vorkämpfer der wirtschaftlichen Einheit Europas mit einer Pistolenkugel, abgefeuert aus der linken Hand. Ein Suchtrupp findet die Leiche drei Tage später auf einer Anhöhe außerhalb Kufsteins in einem Graben. Nach Aussage des Amtsarztes hat sich der Pfarrer "nur wenig" gegen ein christliches Begräbnis gesträubt.
Quellen: Paul Gehring, Friedrich List, JCB Mohr (Paul Siebeck) Tübingen, 1964. Siegfried Schiele (Hrsg.), Friedrich List, in: Die deutsche Frage im Unterricht, 7/1985. Stadt Reutlingen (Hrsg.), Friedrich List und seine Zeit, Reutlingen 1989.
Armin Elhardt